Podiumsgespräch
Gesundes Aufwachsen in Pandemiezeiten – Braucht es einen Pakt für Bewegung?
Es gibt ein neues Bewusstsein für ein altes Problem: Kinder bewegen sich zu wenig. Das belegen eindrücklich auch neue Studien im Jahr drei der Corona-Pandemie. Doch: Woran liegt es, dass es zu wenige Angebote gibt? Sind durch das Aufholpaket mit seiner umfassenden Förderung schon erste Erfolge spürbar? Und vor allem: Was ist noch nötig, um den Zugang junger Menschen zu Sport- und Bewegungsangeboten weiter zu verbessern?

© DKJS
Es diskutierten:
- Thomas Bosch, Referatsleiter für Außerschulische Kinder- und Jugendbildung (BMFSFJ)
- Ute Barthel, Ressortleiterin „Mit Sport aufholen!“, Deutsche Sportjugend
- Dr. Katharina Althoff, Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen
- Paul Lehrieder, Mitglied der Kinderkommission, MdB
- Anne Rolvering, Geschäftsführerin Deutsche Kinder- und Jugendstiftung
- Moderation: Shelly Kupferberg
Zuversichtlich, aber auch nachdenklich bis mahnend – so lässt sich die Stimmung im Podiumsgespräch des 4. Perspektivdialogs bei AUF!leben in aller Kürze skizzieren. Auf die Frage, was mit dem Aufholpaket bewegt werden konnte, antwortete zunächst Anne Rolvering. Vor allem konnte das Bewusstsein für die Dringlichkeit des Themas deutlich geschärft werden, so die Geschäftsführerin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS). Das gelte für viele Lern- und Lebensorte von Kindern und Jugendlichen, und das sei eine gute Voraussetzung für weitere positive Veränderungen. In Zahlen ausgedrückt, habe man bereits rund 2.000 Projekte bzw. über 100.000 Kinder erreichen können. Rund ein Drittel aller Projekte adressiere die physische Gesundheit Heranwachsender. Eine weitere positive Entwicklung: Sportnetzwerke und -bündnisse seien entstanden, der Fokus liege verstärkt auf Kooperationen in der Bildungskommune. Denn, da war sich Anne Rolvering sicher: „Sport und Bewegung sind eine Gemeinschaftsaufgabe. Unsere Bemühungen müssen koordiniert ablaufen – das wäre für Kinder und Jugendliche ein Gewinn.“ Bislang habe man schon einen guten Schritt gemacht, aber an vielen Stellen sei durchaus noch Luft nach oben. Mit Blick auf einen Pakt für Bewegung warnte die Geschäftsführerin der DKJS vor Doppelstrukturen. Es gelte bei einem möglichen Bewegungspakt, immer auch mitzubedenken, was bereits aufgebaut sei, vor allem im Bereich des kommunalen Bildungsmanagements. Dort seien verschiedene Stationen von Kindern gut miteinander verbunden, Wege transparent nachzuzeichnen, Angebote gut zu koordinieren und Angebotslücken zu füllen. Dieser Ansatz ließe sich womöglich auf Sport und Bewegung übertragen, so ihr Vorschlag.
Gemeinsam laut werden für Kinder und Jugendliche
Thomas Bosch reflektierte zu Beginn seiner Ausführungen darüber, dass der Begriff „Aufholpaket“ etwas unglücklich gewählt sei, gehe es doch im Kern um Begegnung, Freude und Teilhabe. Nichtsdestotrotz, so der Referatsleiter für Außerschulische Kinder- und Jugendbildung im BMFSFJ, hätte das Paket mit einem Fördervolumen von insgesamt zwei Milliarden Euro die Möglichkeit gegegeben, auch im Bereich Sport und Bewegung Lenkungswirkung zu erreichen. Er dankte allen Trägern und Helfenden, die die Umsetzung dieses Ad-hoc-Programms in aller Kürze ermöglicht hätten. Doch dies sei noch lange nicht das Ende, angesichts von zwei verlorenen Bewegungsjahren und vielen weggebrochenen Vereinsstrukturen. Es sei jetzt besonders wichtig, so der Politiker, dranzubleiben: „Wir laufen Gefahr, dass im Anschluss die Belange von Kindern wieder sukzessive in den Hintergrund rücken. Wir alle sollten gemeinsam laut werden, um uns für die Belange von Kindern und Jugendlichen einzusetzen.“ Was gemeinsame Anstrengungen betreffe, so entscheide über konkrete Angebote oft die Kommune. Doch ob Skaterpipe oder Bolzplatz – es gelte, vor Ort gemeinsam einen Weg der Umsetzung zu finden. Abschließend mahnte der Referatsleiter, dass man im Herbst gemeinsam noch einmal dafür kämpfen müsse, Schulen und Sportanlagen offen zu halten. In Deutschland, so ein Hinweis, seien Schulen in den ersten beiden Pandemiejahren so lange geschlossen geblieben wie nur in wenigen anderen europäischen Ländern.

© Bild: Büro Dr. Althoff
Viele tolle Maßnahmen seien schon auf den Weg gebracht worden, was ohne die Aufholen-Pakete nicht möglich gewesen wäre, gab Dr. Katharina Althoff zu bedenken. Dieser Schritt sei enorm wichtig, auch vor dem Hintergrund, dass Bewegung neben der physischen ebenso die psychische Entwicklung fördere. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit seien Kinder aus sozial benachteiligten Stadtteilen, die in der Pandemie besonders gelitten hätten, so die Wissenschaftlerin der Universität Duisburg-Essen. Anhand der Datenlage sei erkennbar, dass die soziale Schere auch im Bewegungsbereich enorm auseinandergehe. Für sie sei das eine der größten Herausforderungen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, gehe es auch darum, vorhandene Infrastrukturen besser zu nutzen. Eine Idee: Grundschulturnhallen auch am Wochenende zu öffnen. Schließlich kennen Kinder ihren Schulweg und könnten ihn eigenständig gehen, ohne von den Eltern abhängig zu sein. Schwieriger sei es hingegen, wenn Motivation zur Bewegung von zu Hause generell nicht vorgelebt werde. Die Sport- und Bewegungswissenschaftlerin wies noch auf einen weiteren Punkt hin: Der Anteil fachfremden Sportunterrichts sei sehr hoch, vor allem in den von ihr untersuchten Stadtteilen. „Wir brauchen viel mehr ausgebildete Lehrkräfte und Übungsleiter:innen dort, wo jetzt teilweise nur Löcher gestopft werden“, so die Expertin. Mit Blick auf die noch anstehenden Herausforderungen wünschte sich Dr. Katharina Althoff Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit, um Gutes auf die Beine stellen zu können – aber auch Zeit, um über kleine Projekte hinaus tragfähige Netzwerke und Partnerschaften aufzubauen.
Alarmierende Zahlen
Aus Sicht der Deutschen Sportjugend (DSJ) zog Ute Barthel ihre Zwischenbilanz. Ihre Organisation verstehe sich seit jeher als Bewegungsanwältin für Kinder und Jugendliche. Sie verwies auf, aus ihrer Sicht, alarmierende Zahlen: Aktuell würden nur 20 Prozent der Kinder die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Bewegungszeit erreichen. Zudem habe jedes sechste Kind seit Beginn der Corona-Pandemie an Gewicht zugelegt. Da helfe es, dass die Mitgliedsorganisationen der DSJ verstärkt niedrigschwellige Angebote aufgesetzt hätten. Man habe mit dem Aufholen-Paket die Chance genutzt, um bereits mehrere Zehntausend Kinder zu erreichen, weitere Hunderttausende sollten es in diesem Jahr noch werden, so die Leiterin des Ressorts „Mit Sport aufholen!“. Es sei von großem Interesse, über das Aufholpaket hinaus für die Zukunft anzuschließen und Erreichtes mit Kindern, Jugendlichen, Eltern und vielen weiteren Akteuren weiter voranzubringen. Was Überlegungen zu gemeinsamer Aktion auf politischer Ebene betreffe, so habe die DSJ bereits sehr konkrete Pläne. Man fordere aktuell von der Bundesregierung, noch in diesem Jahr einen Bewegungsgipfel einzurichten, so Ute Barthel. Unterstützer:innen aus allen Teilen der Gesellschaft seien herzlich willkommen. Das klar gesteckte Ziel der Organisation: Deutschland müsse bewegungsfreundlicher werden – insbesondere mit Blick auf Kinder und Jugendliche. Politische Akteur:innen sollten die entsprechenden Rahmenbedingungen hierfür ermöglichen. Die Ressortleiterin verstehe das Vorhaben als Querschnittsaufgabe, mit mehreren politischen Ressorts, einer Gesamtstrategie und einem verbindlichen Maßnahmenkatalog.

© DBT / Inga Haar
Alle bisher genannten Sorgen und Schwierigkeiten trieben auch die Kinderkommission des Deutschen Bundestages um, bestätigte deren Mitglied, der Bundestagsabgeordnete Paul Lehrieder. Er führte zunächst die Mehrfachbelastung ins Feld, schließlich setzten Heranwachsenden aktuell neben der Corona-Pandemie auch der Ukrainekrieg und nicht zuletzt die sich zuspitzende Klimakrise zu. Viele Kinder und Jugendliche hätten mit psychischen Problemen zu kämpfen, umso wichtiger sei es, dass sie sich jetzt endlich wieder mal nach Herzenslust mit Freunden austoben, was in schwierigeren Zeiten der Pandemie oft genug gefehlt habe. Hier wolle der Politiker auch eine Lanze für die Vereine brechen: Diese seien sehr motiviert, nun wieder loszulegen. Viele gäben aktuell Schnupperkurse, bereiteten Sportevents oder Jugendbegegnungen vor. Es sei wichtig, Mitgliedsvereine und -verbände dahingehend zu unterstützen. Ergänzend sei es aber auch notwendig, so Paul Lehrieder, über Jugendämter und Jugendeinrichtigungn zu versuchen, Jugendliche mit guten Projekten zu erreichen. Denn für ihn stehe fest: „Wir müssen die Jugendlichen abholen – von allein kommen sie von ihrer Konsole oder ihrem Smartphone nicht weg.“ Dafür zusätzlichen Raum bzw. Fläche zu schaffen, sei zuallererst eine kommunale Aufgabe, merkte der Abgeordnete an. Oft seien es Bürgermeister:innenbüro und Stadt- oder Gemeinderat, die entschieden, wenn ein Skaterplatz oder mehr Spielfläche gebraucht würde. Aus seiner Zeit als Bürgermeister wisse er, dass die Länder hier auch ihren Beitrag leisteten, etwa durch Zuschüsse bei den Außenanlagen von Schulen oder Kitas. Nicht immer seien Verbesserungen nur eine finanzielle Frage, sondern sind, insbesondere in kleinen Kommunen, auch begeisterter ehrenamtlicher Mitarbeit zu verdanken, durch die sich eine Menge bewegen lasse. In jedem Fall sei es weiterhin dringlich, so der Experte, dem Bedürfnis der Kinder nach mehr Raum zum Spielen und Toben gemeinsam nachzukommen.